Wenn in den letzten Jahren zunehmend von einer „gesellschaftlichen Spaltung“ in den westlichen Staaten die Rede war, dann war das nicht bloße Rhetorik, sondern die Beschreibung eines diffusen Phänomens, das sich gewissermaßen an zwei Achsen vollzieht. Die eine Achse verläuft zwischen „oben“ und „unten“, die andere zwischen „links“ und „rechts“. Stark vereinfacht kann man sagen: „links oben“ gegen „rechts unten“. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die fortschreitende Liberalisierung der westlichen Gesellschaften begrüßen. Auf der anderen Seite stehen jene, die sie bremsen oder umkehren wollen.
Die einen sehen das Glück in einer zu schaffenden Zukunft, die anderen in der Gegenwart oder einer bestimmen Ära der Vergangenheit. Die progressiven Kräfte lassen sich in Linke bzw. Linksliberale (Betonung des Egalitarismus) und „rein Liberale“ bzw. Libertäre (Betonung des Individualismus) unterscheiden. Auf der bremsenden Seite finden sich liberalkonservative („bürgerliche“) Kräfte und Rechtspopulisten, wobei Letztere nicht nur bremsen, sondern oft auch in „bessere“ Zeiten des Liberalismus zurückwollen, weshalb wir sie in „Volle Fahrt ins Nichts“ als „Reaktionäre des Liberalismus“ bezeichnet haben. Und dann gibt es noch die kleine Fraktion der „echten Reaktionäre“: Gegner des Liberalismus, die vor die Französische Revolution zurückwollen, Anhänger von „Thron und Altar“. So weit der vereinfachte Überblick über die politischen Fraktionen und ihre Stellung zum Fortschritt.
Der Fortschrittsglaube als Grundzug der Moderne
Wenn wir an die grundsätzlichen Aspekte der Moderne denken, ist sicherlich die Idee des Fortschrittes zu nennen. Es ist der Gedanke, dass die Zeit ausschließlich eine gerichtete Linie sei, die von einem Urzustand auf einen Endzustand weist. An diesen Zeitpfeil ist eine Entwicklung geknüpft: die permanente Entwicklung zum „Besseren“ – technisch, wirtschaftlich, aber vor allem auch die sozialen und moralischen Verhältnisse betreffend. Während man sich über das, was eine technische oder wirtschaftliche Verbesserung ist, noch einigermaßen verständigen kann, verhält es sich bei gesellschaftlichen Fragen schon schwieriger. Der Gedanke, dass die soziale Ordnung einer ständigen „Verbesserung“ bedarf, mag uns aufgrund seiner Dominanz selbstverständlich erscheinen – allein, er ist es nicht.
Die Idee einer permanenten gesellschaftlich-moralischen Optimierung ergibt sich aus dem Idealismus der Aufklärungsphilosophie. Die moderne Gesellschaft ist ein Ideal, also etwas primär Erdachtes und Gesetztes, nichts Überliefertes, also primär Erfahrenes. Wenn vormoderne Gesellschaften grundlegend auf Traditionen im Sinne geronnener Erfahrung aufbauen, dann ist die Moderne der komplette Bruch damit. Das Programm eines erdachten Menschen dominiert, und in dieser Spannung zwischen Realzustand und Idealzustand vollzieht sich der Bedarf ständiger gesellschaftlicher Umwälzung.
Der Liberalismus als politisches Urkonzept der Moderne implementiert diese Umwälzung mit immer weiterer und neuerer „Liberalisierung“. Dass der Fortschrittsoptimismus der Moderne, nicht zuletzt durch den Faschismus, empfindliche Störungen erfahren hat, soll uns in diesem Text nicht weiter beschäftigen. Festhalten wollen wir, dass – trotzdem die große Zeit der Fortschrittsgläubigkeit wohl vorüber ist – die Fortschrittsidee weiter zur Genetik der Moderne, also zum Liberalismus gehört. Der Liberalismus kann in theoretischer Hinsicht nie zur Ruhe kommen, muss „kritisch“ bleiben. Denn es gibt immer Teile der Welt, die dem Universalismus noch entzogen sind. Es wird immer soziale Verhältnisse geben, die noch nicht als „Übereinkunft freier Individuen“ gestaltet sind, oder individuelle Aspekte, die noch immer der „autonomen Verfügung“ entzogen sind. Und es wird immer irgendwo eine „Ungleichheit“ geben, die dem Egalitarismus entgegensteht.
Liberalismus ist in dem Sinn kein politischer Zustand, sondern ein politischer Prozess, der nie endet – die Jagd nach dem ewigen „Morgen“, die Utopie als Motor einer Vervollkommnung, die nie Realität wird. Dass die Linken und Linksliberalen, die „progressiven Kräfte“, hierbei Schrittmacher und Gewinner und Liberalkonservative und Rechtspopulisten, also Rechtsliberale, hierbei Nachzügler und ständige Verlierer sind, haben wir ebenso in „Volle Fahrt ins Nichts“ unter Rückgriff auf Alex Kurtagić bereits diskutiert (Alex Kurtagic: Warum Konservative immer verlieren, Verlag Antaios, 2013).
Nun gibt es etwas Gegenteiliges: die Sehnsucht nach einer schwindenden oder gar vergangenen Epoche. Ob diese positiv gedachte Vergangenheit in einem früheren Stadium des Liberalismus oder einer vorliberalen Zeit gesehen wird, ist dabei nebensächlich. Für unsere Überlegungen ist die Denkform des Reaktionären an sich entscheidend. Es ist das, was die kurze Formel „Früher war alles besser“ vereinfachend meint, eine Umkehrung der Fortschrittsidee.
Das Reaktionäre an Beispielen
Die jüngste Erscheinungsform des Reaktionären begegnet uns in den Rechtspopulisten. Unter diesen hat Donald Trump in den USA das allgemeine westliche Phänomen des Rechtspopulismus sehr spät und personell verengt vollzogen. Trumps politischer Adressat ist, durchaus typisch und von seinem Rasputin Steve Bannon vorgedacht, der „kleine (weiße) Mann“. Es ist derjenige, der immer noch das Rückgrat der größten Volkswirtschaft der Welt bildet, der jedoch in den jüngsten Liberalisierungsschüben als Auslaufmodell und „Feind“ schlechthin markiert wurde. Ihm versprach Trump mit dem Spruch „Make America great again“ implizit eine Rückkehr in die „goldenen Nachkriegsjahre“, die wohl irgendwann in den 1980ern endeten.
Aber auch eine junge Anhängerschaft mit Querverbindungen zur „Alt-Right“ begleitete Trumps Wahlkampf im Internet. Es entwickelte sich ein Kreativfeuerwerk, bestehend aus Memes, dem sogenannten Kek-Kult um „Pepe den Frosch“, Musikclips mit 1980er-Synthmusik und Vaporwave-Ästhetik. Diesem Sog konnte sich kaum jemand im Zuge der Trump-Euphorie gänzlich entziehen: hier der „starke Mann“, auf den die USA und die „Rechte“ im Westen sehnlich gewartet hatten, da eine „Begleitmusik“, die an die letzte Phase eben jener „goldenen Zeit“ kreativ und spielerisch anknüpfte. Auch wenn diese Memes sicherlich einen ironischen Anteil hatten, so schwang doch stets ein nostalgisches Moment mit. Die 1980er-Jahre stehen für ein Jahrzehnt, wo auch in der Populärkultur die weiße Bevölkerungsmehrheit noch deutlich zum Ausdruck kam, die (amerikanische) Welt, zumindest rückblickend, noch „heil“ schien. Und es war auch die Zeit, wo Trump als Mann persönlich in seinen „besten Jahren“ stand, wovon – auch das ein Faktor – es reichlich Bildmaterial gibt, welches nun collagenartig mit der Musik dieser Zeit oder anderen Popphänomenen verbunden wurde. Wenn man die rauschartige Dynamik dieser Untermalung, die alles überstrahlt hat, wegblendet, muss man nüchtern eine gehörige Portion Sehnsucht nach einer „besseren Vergangenheit“ daraus lesen.
Eine völlig andere reaktionäre Erscheinung finden wir im Historismus des 19. Jahrhunderts. Gewöhnlich auf Kunst bzw. Architektur angewandt, wollen wir unter dem Begriff ein allgemeines Phänomen dieser Zeit verstehen. Dieses erste liberale Jahrhundert war geprägt von gigantischen Umwälzungen: politisch, wirtschaftlich, philosophisch und im Ansatz künstlerisch. Im 19. Jahrhundert begegnet uns die gewaltige Kraft der Moderne, und gleichzeitig treten allerorts reaktionäre Tendenzen auf. Politisch brachte das 19. Jahrhundert die endgültige Erosion eines mehr als tausend Jahre währenden Zeitalters: den Zerfall des Heiligen Römischen Reiches und die Etablierung der konstitutionellen, das heißt: liberalisierten Nachfolgemonarchien. Während die äußerlich aufgezwungene, napoleonische Liberalisierung militärisch abgewehrt wurde, vollzog sich die selbst gewählte im Laufe des Jahrhunderts im Inneren, wobei das Symboljahr 1848 den Weg markiert. Daran konnten auch der Vormärz bzw. das Biedermeier, Metternich und all die anderen Vertreter der alten Ordnung nichts ändern.
In der Kunst, stellvertretend in der Architektur, zeigte sich das Reaktionäre im Gründerzeitstil. Noch einmal wurden fast alle Stile des Abendlandes und der Antike hervorgeholt und sozusagen „stil-los“ rekombiniert. Einen darüber hinausgehenden, eigenständigen Stil vermochte die Epoche nicht mehr zu prägen. Dafür endete die reaktionäre Kunst jäh mit dem endgültigen Zusammenbruch 1918 – die Moderne übernahm auch diesen Bereich. In Nietzsches „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, und nicht nur darin, können wir viel von jenem starren Geist erahnen, der später als charakteristisch für den Wilhelminismus galt und der auch die einst revolutionären Studentenverbindungen erfasste, wovon Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ persiflierend erzählt. Der frühe Wandervogel und die Jugendbewegung, die so grundlegend für einige Vertreter der Konservativen Revolution, allen voran Ernst Jünger, werden sollten, sind nicht ohne die reaktionäre Starre des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu fassen.
Eine weitere reaktionäre Strömung zeigt sich mindestens über das vergangene Jahrzehnt: die Bezugnahme auf das Christentum als angeblich grundlegendes und unverhandelbares Identitätsmerkmal der Europäer innerhalb der politischen Rechten. Das mag für kirchlich-konservative oder kirchlich-reaktionäre Strömungen, so es sie noch gab bzw. gibt, verständlich sein. Neu ist es für die Rechtspopulisten, etwa die FPÖ, die aus einer nationalliberalen (und allenfalls nationalsozialistischen) Tradition stammt, die nie eine auffällige Nähe zu Kirchen aufgewiesen hat – wenn überhaupt, eher zur protestantischen als der „Nationalkirche der Deutschen“ statt zur teils verhassten römisch-katholischen.
Auch wird die Bezeichnung „Abendland“ für Europa in einer seit 1968 ungekannten Intensität wiederverwendet. Unter „Abendland“ wollen wir, ungeachtet anderer Verwendung, das nachantike, christliche Europa verstehen, das aus der Völkerwanderungszeit hervorgegangen ist, sich spätestens ab 800 mit der Kaiserkrönung Karls des Großen manifestiert hat und 1918 untergegangen ist (von der Beschwörung des Begriffes in den unmittelbaren Nachkriegsjahren abgesehen).
Nun mag es durch die Zunahme der Muslime in Europa nachvollziehbar sein, dass der alte Konflikt Christentum gegen Islam in motivierende Stellung gebracht werden soll. Deutlich kommt dies im Namen der Bürgerinitiative PEGIDA – „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – zum Ausdruck. Das allein erklärt aber noch nicht, wieso auch Strömungen der Rechten, die eine differenzierte Sicht auf den Islam haben, neuerdings auf das Christentum rekurrieren – konkret: Teile der „Neuen Rechten“. Die „Neue Rechte“ war bis in die 1990er-Jahre relativ indifferent bis ablehnend gegenüber dem Christentum. Die Vertreter der Nouvelle Droite und auch Schlüsselfiguren der deutschen „Neuen Rechten“, wie Armin Mohler, sind sogar ausgesprochene Kritiker des Christentumes. Und zwar nicht bloß im Sinne eines Affektes, sondern ausführlich theoretisch argumentiert, etwa durch Kritik am Universalismus, Egalitarismus und Individualismus des Christentumes. So resümiert Mohler folglich: „[W]enn ein Christ Ernst macht mit seinem Christentum, dann muß er ein Linker sein“ (Armin Mohler: Das Gespräch. Über Linke, Rechte und Langweiler, Edition Antaios, Dresden 2001, S. 45).
Auch innerhalb der Konservativen Revolution als geistiger Vorläuferin der „Neuen Rechten“ bzw. Nouvelle Droite hat das Christentum keine und der Katholizismus schon gar keine konstitutive Stellung eingenommen. Im Gegenteil, das Christentum wird im Geiste Nietzsches als „Erzvater der Konservativen Revolution“ (Armin Mohler) von etlichen Vertretern abgelehnt, und das mit ganz ähnlichen Kritikpunkten wie jenen der Nouvelle Droite.
Zur Psychologie des Reaktionären
Nach Armin Mohler handelt es sich beim Reaktionären um einen „mißverstandenen Konservatismus“, der „etwas Bestehendes zu bewahren und unter allen Umständen an ihm festzuhalten“ sucht. Das reaktionäre Denken ist starr und anerkennt nicht „das stete Fließen der Einzelformen“. Anders gesagt: Der Reaktionär denkt nicht organisch. Er will nicht verstehen, dass jede konkrete einzelne Erscheinung Anfang und Ende, Geburt und Tod in sich hat. Auch wenn wir im Zeitpunkt nie ganz genau wissen, wann etwas im Entstehen oder Vergehen ist – es gibt Zeiten, da ist es überdeutlich (Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 1999, S. 114 f.).
Doch der Reaktionär stemmt sich dagegen, will aufhalten, was nicht aufzuhalten ist. Er hält dogmatisch an „überlebten Einzelformen“ fest oder will sie gar wiederherstellen (a.a.O., S. 115), was einem verkehrten Fortschrittsdenken entspricht. Arthur Moeller van den Bruck vertrat, wie Mohler, einen revolutionären Konservatismus und erklärte die Problematik des Reaktionärs mit dessen Verabsolutierung einer bestimmten Einzelerscheinung. Der Reaktionär versteht die Dynamik der äußerlichen Erscheinung nicht. Er wünscht sich, dass eine einzelne „Äußerungsform […] niemals ende“ (Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich, 1934, S. 233 f.). Dieses absolute Denken im Singulären passt zur linearen Zeitauffassung. Denn wer starr linear denkt, für den ist ein Ende das endgültige Aus. Am Ende der Linie kommt nichts mehr. Umso mehr muss er am Vorhandenen oder Vergangenen festhalten. Im zyklischen Denken hingegen kann jedes Ende die Rückkehr zu einem neuen Anfang sein. Ende und Anfang sind versöhnt. Die Identität eines Volkes kann sich mit jedem neuen Kreislauf anders äußern, eine andere Einzelerscheinung annehmen, die den Umständen gemäß ist.
Das Denken des Reaktionärs ist auch insofern anorganisch, als er nicht verstehen will, dass kulturelle Äußerungsformen Umstände und Voraussetzungen haben; dass eine Epoche in ein Davor und Danach und Währendessen eingebettet ist und nicht nach Belieben herausgelöst werden kann. Wir sehen das am Beispiel des Katholizismus. Wie weit müsste man zurückgehen, um ihn als vital bezeichnen zu können? Vor das Zweite Vatikanische Konzil? Vor den Zusammenbruch der europäischen Monarchien? Vor die Französische Revolution? Vor die Aufklärungsphilosophie? Vor den Protestantismus? Man wird feststellen, dass die hohe Zeit des Katholizismus vor allem im Mittelalter zu finden ist. Das heißt aber: Einbettung in eine bestimmte Epoche – eine Epoche der Ethnogenese, in der etwa aus Germanen Deutsche und aus Heiden Christen wurden, in der das Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches herrschte, das mit einer ständisch-feudalen Ordnung verwoben war und wo die Bibelauslegung ausschließlich dem Klerus vorbehalten war, eine Zeit, die keine Massenmedien kannte, keine vernetzte Welt und kein technisches Niveau, das mit unserem vergleichbar wäre. Und selbst wenn man nicht so weit zurücksteigen möchte, sich mit weniger zufrieden gibt: 1918 ff. verlor der Katholizismus endgültig seine staatliche Verankerung, die er von jeher gehabt hatte. Musste der Katholizismus unter solchen Bedingungen nicht eine Reduktion auf seinen biblisch-christlichen Kern durchmachen? Aber all diese Überlegungen sind Stückwerk, denn die Bedingungen einer Ära lassen sich gar nicht erschöpfend erfassen. Und doch illustrieren die genannten Aspekte, wie artifiziell und anorganisch jeder reaktionäre Zugriff sein muss.
Und ein Weiteres versteht der Reaktionär nicht: Dass nicht nur die hohe Zeit, sondern auch der Niedergang einer Epoche Voraussetzungen, also verkettete und verwobene Ursachen hat. Dinge sind zu ihrem Ende gekommen, weil sie zu ihrem Ende kommen mussten! Auf eine beispielhafte Formel gebracht: 1788 war nicht alles gut. Die Französische Revolution war nicht Folge kurzfristig falscher Politik des Ancien Régime. Das alte System war an sein Ende gekommen. Es konnte sich nicht mehr rechtfertigen, nicht mehr behaupten. Eine Restauration hieße deshalb, einen hypothetischen Weg zu wählen, der gescheitert ist und genau zu jenen Konsequenzen führte, die der Reaktionär gerade ablehnt. Moeller van den Bruck beschrieb es so:
"Der konservative Mensch erkennt die Zusammenhänge eines Verhängnisses, das viel zu bedingt und verknüpft ist, um es ungeschehen machen zu können. Der reaktionäre Mensch dagegen glaubt, diesem Verhängnis durch eine Politik begegnen zu können, die im Wesen dieselbe Politik aufnimmt, welche […] vor der Revolution versagt hat.
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a.a.O., S. 222.
Aber ist das Reaktionäre wirklich eine Denkrichtung, die auf Erkenntnissen beruht und Umstände abwägt? Oder ist es im Grunde nicht eher ein Gemütszustand, eine psychische Angelegenheit? Erwächst das Bedürfnis nach dem Zurückkriechen in eine vermeintlich heile Welt nicht aus dem Trotz gegen Veränderung, aus der Furcht vor Erosion, aus der Angst vor dem Chaos? Vieles spricht dafür, die Ursachen des Reaktionären in charakterlichen Dispositionen zu suchen. Auch Moeller van den Bruck sah im Reaktionären eine „schlechtverhehlte Zukunftsfurcht“, die mit „schmeichelnde[r] Selbsttäuschung“ (a.a.O., S. 219) gelindert werden soll. Das Reaktionäre überdeckt, es will den Ursachen nicht auf den Grund gehen. Es scheut den nüchternen Blick auf die gegenwärtigen Bedingungen. Das „Reaktionärtum“ vermag nicht mehr, als „flüchtig und brüchig über Probleme hinwegzubringen […], die nicht gelöst wurden“ (a.a.O., S. 231), so Moeller van den Bruck. Das erklärt eventuell, wieso Frauen gewöhnlich empfänglicher für solche Ansätze sind. Solange jedoch die Männer um ihre Rolle als Schöpfer und Zerstörer wissen, kann darin ein stabilisierender Faktor gesehen werden.
Wieso wir revolutionär sein müssen
Moeller van den Bruck schrieb: „Der reaktionäre Mensch schafft nicht“ (a.a.O., S. 238). Und genau darin liegt seine Fatalität. Die Krise verlangt schaffendes Handeln: Not-Wendung. Die Krise als Wende, das Ende als Anfang. Genau da braucht es Schaffende und – ja, auch – Zerstörende, damit das Ende nicht zum Siechtum wird. Der Umbruch ist Anpassung an geänderte Umstände, er versetzt uns in neue Lebensfähigkeit.
Und je größer die Krise ausfällt, desto eher zeigt sich der Nachholbedarf an Anpassung. Wir dürfen beim Zurückschneiden der überkommenen Formen nicht zu zaghaft sein. Steckte in all dem, was der Liberalismus abgeräumt hat, nicht schon vielfach der Wurm? Schmückt sich der Liberalismus nicht mit strotzender Kraft, die doch auch viel Schwäche des Alten war? Sind die Jakobiner und die ’68er nicht marode Türen eingerannt? Ist das nicht ein weiterer Beleg dafür, dass eine revolutionäre Rechte ganz schön tief wird schneiden müssen? Hat die abendländische Epoche uns nicht mehrfach intensiv, 1789 – 1918 – heute(?), angezeigt, dass wir sie erlösen müssen?
„Das Einzelne, dessen Zeit vorbei ist, soll nicht, wie der Reaktionär das täte, krampfhaft festgehalten werden. Es soll vielmehr fallen, und dem hilft man nach. Besser ist ein schneller Schnitt als langsames Faulen, wenn der Untergang ohnehin beschlossen ist.“
—
Mohler: Konservative Revolution, S. 116.
Wohlgemerkt, Mohler spricht im letzten Satz nicht den Liberalismus an, der sich stabiler als gewünscht erweist, sondern das Reaktionäre im eigenen Haus, in der politischen Rechten. Was uns aber von den liberalen Revolutionären, den Fortschrittsdenkern unterscheidet, ist der Wille zur Substanzerhaltung. Und diese europäische Substanz definiert sich recht basal: das was in den 6.500 Jahren Europas immer gegolten hat, egal, ob sich die europäische Identität in ihren Einzelerscheinungen, in den Kulturen der Vorgeschichte, der Antike oder des Abendlandes formiert hat. Dieses europäische Minimum, unser absoluter Kern, bildet die Untergrenze eines neuen Zyklus, einer neuen Erscheinungsform, einer neuen europäischen Kultur. Dazu gehören etwa der europäische Menschenschlag, seine Mentalität und bestimmte hartnäckige Traditionen.
Lösen wir uns vom Abendland als gedanklich einzig möglichem Europa. Es gab europäische Völker, Sprachen, Religionen, Sitten und Stile davor. Es liegt an uns, europäische Völker, Sprachen, Religionen, Sitten und Stile für eine neue Zeit zu schaffen. Und wenn es in Anbetracht der Verheerungen nicht anders geht: ein europäisches Volk, eine europäische Sprache, eine europäische Religion, eine europäische Sitte und einen europäischen Stil. Tun wir nichts oder sind zu halbherzig beim Schnitt, wird der Liberalismus die Lage für seine permanente Revolution zu nutzen wissen. Machen wir uns nichts vor, er hat die revolutionäre Lage schon lange erkannt, er hat seine Anpassungsfähigkeit ausreichend demonstriert. Und bis er zu seinem Ende kommt, sind wir vielleicht schon gar nicht mehr. Wir müssen das nachholen, was versäumt wurde: der Aufklärung eine Gegenaufklärung und der bürgerlichen eine konservative Revolution entgegensetzen.
Wenn wir zu klein, wenn wir reaktionär denken, werden wir scheitern. Dann tritt das ein, wovor Karlheinz Weißmann mehrfach gewarnt hat: dann hat das europäische Pendel (als alternative Metapher des Zyklus), allen allgemeinen Pendelgesetzen zum Trotz, zum letzten Mal ausgeschlagen. Für uns hat „das Wort ‚Bewahren‘ im aktiven Sinne keine Berechtigung“ (a.a.O., S. 115). Es liegt zu viel Passivität darin. Das Leben passiert nicht. Es muss geführt werden, es muss sich rechtfertigen, sich behaupten, abgerungen werden. Dazu müssen wir „lebenshemmende Wucherungen“ beschneiden. Wir wollen keine Reform, weil wir wissen, „dass Geburt mit Vernichtung bezahlt werden muss“ (a.a.O., S. 118). Wir müssen revolutionär denken und handeln.
Wenn wir bloß an überkommenen Stilen, Sitten und Gewohnheiten festhalten, es uns zu einfach machen, verkennen wir die Lage. Man kann sich noch hundertfach im modernen Getümmel eine Tracht überziehen oder sich als Deus-vult-Ritter im Plattenbau wähnen. Man kann noch tausendfach ein heimatliches Landschaftsfoto in einem sozialen Netz posten und darunter schwülstige Worte apostrophieren. Man kann immer vom Rückzug in eine agrarische Wald-und-Wiesen-Romantik träumen. Doch was ist das? Ein neues Biedermeier, ein Neohistorismus, eine Art Leichenfledderei, ein Cargo-Kult, ein Rollenspiel befremdlicher Art, unpolitisch, unauthentisch, Kitsch, eine Farce an sich selbst und ein Frevel am Gewesenen. Reaktionär.
All jene, die zwar die Problematik der Gegenwart erspüren, denen aber die Lebenskraft fehlt, in den Mahlstrom der Realität zu blicken, um ihn schöpferisch zu überwinden – sie geben sich als Reaktionäre zu erkennen! Sie haben graduelle Einsicht, aber keine Konsequenz mehr. Sie sind bestenfalls Reproduzierende, keine Schaffenden. Sie sind müde, sie sind Zeugnisse des Siechtums, Kinder der niedergehenden Epoche. Es empfiehlt sich, sie zu meiden. Für den Kampf sind sie nicht mehr geeignet. Sie versuchen, mit der Süße der einfachen Antworten die, die noch suchende Kraft haben, in das Reich der Untergegangenen mitzunehmen. Wir, die wir noch reich an Geist, Biss und Unversöhnlichkeit sind, sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, uns den Weg in eine neue Zukunft mit Gewalt schaffen zu müssen. Was kommen muss, um es mit den Umständen der Zeit aufzunehmen, ist geistig-kulturell zu erringen – ein Ringen mit uns selbst. Uns wird nichts geschenkt, schon gar keine Kultur, die nicht mehr ist.
6519.07.26 · 6522.06.01